Am 08. Mai 2015 konnte ein Denkmal für das Strafgefangenenlager „Elberegulierung“ Griebo und seine Opfer feierlich eröffnet werden. Viele Einwohner aus Apollensdorf und Griebo waren gekommen. Eine besondere Freude war es, auch die Angehörigen zweier ehemaliger Strafgefangenen zu begrüßen. Sie haben mit diesem Denkmal einen Ort des Trauerns erhalten und eine Würdigung für Ihre Großeltern, die niemals eine Rehabilitation erfahren haben.
Im Rahmen dieses Festaktes, der u.a. mit Gedichtrezitationen von Schülern meines ehemaligen Gymnasiums mitgestaltet wurde, hielten der damalig amtierende Oberbürgermeister Eckehard Naumann, die Ortsbürgermeisterin Angela Menzel und die Angehörige Sabine Schmidt Ansprachen. In meiner Rede wurde mir die Ehre zu teil, Grußworte von Dr. Petr zu übermitteln.
Das Denkmal entstand mit Unterstützung des Kultur- und Traditionsvereins Apollensdorf und Wittenberger Unternehmen. Es ist direkt am Elberadwanderweg gelegen und soll damit nicht nur Anwohner mahnen und informieren, sondern auch Touristen aus ganz Deutschland, die den Radweg nutzen. Die Anordnung der Sandsteinquader ist der Aufstellung der ehemaligen Lagerbaracken nachempfunden und soll Besuchern helfen, sich ein Bild vom Aufbau des ehemaligen Strafgefangenenlagers zu machen.
v.l.n.r.: Oberbürgermeister Eckehard Naumann, Sabine Schmidt (Angehörige), Ortsbürger-meisterin Angela Menzel, Bettina Harreß (Angehörige), Johanna Keller
Foto: K.P. Menzel
Eine tschechische Kleinstadt Anfang März 2015, irgendwo zwischen Prag und Brünn. Die Straßen sind schlecht und die Fassaden grau. Allein die Kirche sticht hervor – und die adrette Seniorenresidenz, vor der wir nun halten. Wer hätte gedacht, dass die Antwort auf all unsere Fragen an diesem Ort zu finden ist? Hier lebt er, der letzte Überlebende des Strafgefangenenlagers „Elberegulierung“ Griebo. Zwei Jahre dauern die Recherchen zu diesem NS-Lager nun schon und haben uns schließlich nach Tschechien geführt.
Auf einmal steht er in der Eingangshalle. Früher war er ein attraktiver Mann von großer, schlanker Figur. Heute geht der 92-jährige gebeugt und auf einen Stock gestützt. Dennoch steckt er voller drahtiger Energie. Mit wachem Blick und einer kräftigen Stimme wirbelt er über die Flure als wäre er Herr über das Heim, in dem er lebt.
Nach der 5-stündigen Fahrt sind wir geschafft. Doch keine Spur von Verschnaufen. Kaum betreten wir sein Zimmer, dreht er sich um und sagt ungeduldig: „Fräulein Johanna, kommen Sie! Wir müssen arbeiten!“ Auch er scheint sich auf dieses Gespräch gefreut zu haben. Ein Gespräch mit Deutschen, die aus der Stadt gekommen sind, in der er seine schwersten Jahre verlebte. Wir lassen ihn erzählen, unterbrechen seinen Schwall von Erinnerungen nicht. Wie ein Film spielt sich das Leben des Mannes vor uns ab. Er beginnt mit dem Ende, mit der Entlassung aus dem Lager, in dem er zwei Jahre lang gelitten hat. Mit tschechischen Freunden, die er noch heute seine Kameraden nennt, machte er sich auf den langen Weg in die Heimat. Andere Kameraden haben es nicht geschafft. Sie sind Arbeitsunfällen, Krankheiten, Mangelernährung und der Willkür der Aufseher zum Opfer gefallen. Der Mann erzählt vom Leben danach. Von seiner Entscheidung, Lehrer zu werden, seiner Habilitation, seiner Entlassung infolge der politischen Veränderungen ab 1968, seinem Werdegang als Psychologe. Von seinem Dasein als Vater, Großvater und Urgroßvater. In der Unterhaltung ist er lebhaft. Keine Anzeichen seines Alters. Wenn sie nicht gerade wild gestikulieren, liegen seine Hände würdevoll gefaltet auf seinem Schoß.
Als die Erzählung im Hier und Jetzt mündet, fragen wir nach den Gründen seiner Verhaftung und hören den Beginn der Geschichte. Eine Gruppe mutiger Abiturienten vervielfältigte 1942 Flugblätter gegen das verhasste Hitlerregime und verteilte sie in ihrem tschechischen Heimatort. Hierfür wurden die Jugendlichen, darunter auch der Mann, der uns gegenübersitzt, von der Gestapo verhaftet und verhört. Über die Haftanstalten Litoměřice, Theresienstadt und Dresden gelangte er schließlich nach Griebo, um dort Zwangsarbeit zu verrichten.
Nun beschreibt er die Haftbedingungen. Jeden zweiten Sonntag durften die Häftlinge duschen und wurden sich dabei ihrem körperlichen Verfall bewusst. Sie nannten sich Skelette. Der zwölfstündige Arbeitstag begann um 5 Uhr morgens mit einem Appell, zu dem barackenweise angetreten wurde. Gekleidet waren sie in graue Häftlingsanzüge mit gelben Streifen an den Seiten. Zu diesem dünnen Anzug, der wenig Schutz vor Kälte und Nässe bot, gehörten Holzpantoffeln, die Sommer wie Winter ohne Strümpfe getragen werden mussten. Die schwersten Monate waren daher März und April, denn ein Großteil der Arbeit fand im Freien statt. Auch wenn Regen oder Schnee fiel, mussten die Strafgefangenen draußen arbeiten und konnten sich nirgendwo unterstellen. „Genauso war das auch, wenn ein Luftangriff gemeldet wurde. Wir konnten bei den Junkerswerken nicht in den Schutzraum gehen wie die Zivilarbeitenden. Wir mussten draußen bleiben. Aus den Bauten der Fabrik sind wir entlang des Flugplatzes gelaufen, damit wir noch weiter entfernt von den Gebäuden waren. Manchmal sahen wir, wie sich die Bombenschächte der Flugzeuge öffneten und dann die Bomben. Am 07. März 1945 haben wir unsere Leben aus den brennenden Baracken gerettet. 20cm von meinem Bett entfernt fiel die Bombe herunter. Sie war so lang.“ Mit seinen langen schmalen Fingern beschreibt er einen Abstand von etwa 40cm. „Und eine solche Bombe ist in unsere Baracke durch das Dach und neben mein Bett gefallen. Sofort brannte der Fußboden. Ein Teil meiner Kameraden musste die Tür ausreißen. Die war nicht nur abgeschlossen, es war auch ein Riegel draußen davor. An den Fenstern waren Gitter und so etwas aus Holz, ja?“ Er symbolisiert eine Art Sichtschutz. „Fensterladen?“, frage ich. „Ja! Schade, dass ich nicht so viele Deutschkenntnisse habe.“ Da müssen wir lachen. Nach über 70 Jahren spricht dieser Mann noch immer fließend Deutsch und wendet den Genitiv besser an als so mancher Deutsche. „Dann haben wir den Zaun herausgerissen und sind zum Feld zwischen unserem Lager und dem Stadtviertel Alten gerannt. Dort überlebten wir die Hitze der brennenden Baracken und wir schauten auf die Stadt mit tausend brennenden Häusern. Nach der zweiten Welle kamen die Flugzeuge ein drittes Mal und schon fielen die Sprengbomben runter und die ganze Stadt lag in Trümmern. Das war schrecklich.“ Vor meinem inneren Auge sehe ich die Ruinen von Dessau. Noch einige Tage verblieb sein Außenkommando zu Aufräumarbeiten in dieser Geisterstadt. Unser Widerstandskämpfer entfernte dabei unter anderem Scherben der geborstenen Fenster in den Meisterhäusern des berühmten Bauhauses. Er sah mit an, wie die Wachmannschaften alle belastenden Akten vernichteten, bevor sie ihre Gefangenen auf einem Tagesmarsch zurück ins Hauptlager nach Griebo trieben.
„Und jetzt wussten wir nicht, was mit uns passieren wird. Ich rede vom 12. bis 26. April. Es gab zwei Überlegungen: erstens wir gehen nach Norden nach Schleswig-Holstein zu den dänischen Grenzen. Aber am 25. sind die Russen und Amerikaner in Torgau zusammen gekommen. Also konnten wir nicht zwischen der vorrückenden West- und Nordfront nach Norden. Zweitens erzählte man sich, dass wir erschossen werden. Dass wir auf den Appellplatz gehen sollen und dass sie uns von zwei Nestern mit Maschinengewehren aus erschießen werden. Doch wir hatten Glück. Auf einmal ging das Tor auf! Die Hauptwachtmeister sagten: ‚Wer will zu den Amerikanern? – Der soll in diese Richtung gehen‘, ‚Wer will zu den Russen? – Der kann in diese Richtung‘. Und auf einmal waren wir frei, aber wir wussten nicht, wo wir hinkommen werden.“ Und da sind wir wieder an der langen Reise in die Heimat angelangt. Während er all das erzählt, ist er ganz ruhig. Mit diesem Kapitel seines Lebens geht er offen um. Was für uns unvorstellbar scheint, war für ihn Realität. Er musste diese Realität hinnehmen und sich in ihr zurechtfinden. Allein an einer Stelle der Erzählung wird ihm die Stimme zittrig und er bricht nach wenigen Sätzen ab, als die Sprache auf den Prozess gegen die Widerstandsgruppe in Dresden kommt. Zwei der jungen Männer wurden zum Tode verurteilt. Das Zellenfenster des Erzählenden zeigte zur Hinrichtungsstätte hinaus. Weiter möchte er nicht sprechen.
Nach vier Stunden Interview schwirrt uns der Kopf. Die vorbereiteten Fragen sind abgearbeitet und wir sind zu überwältigt, um neue zu formulieren. Wir versprechen uns, brieflich in Kontakt zu bleiben. Er will dann weitere Fragen beantworten. Und die werden mit Gewissheit kommen.
Die Verabschiedung erfolgt mit Handkuss – ganz nach alter Schule. Es folgen viele warme Worte, trotzdem bleibt noch viel zu sagen. Er nennt uns seine Freunde. Ein gutes Gefühl, diesen besonderen Menschen zum Freund zu haben.
Als wir den Ort hinter uns lassen, fällt Schnee und die ein oder andere Träne.
Dr. Jaroslav Petr
und Johanna Keller
Foto: A. Keller
Am 21. Januar 2015 nahm ich am Jugendforum denk!mal ´15 in Berlin teil. Zu diesem Forum lädt der Berliner Landtag Jahr für Jahr Schüler aus Berlin ein, sich in Projekten mit Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus auseinanderzusetzen. Aber auch das Lucas-Cranach-Gymnasium Wittenberg hat sich unter der Leitung der Geschichtslehrerin Frau Ruhmer mehrfach am Forum beteiligt.
So wurden 2015 zwei Ausstellungen aus Wittenberg zu verwandten Themen präsentiert: die des Lucas-Cranach-Gymnasiums über das Zuchthaus Coswig und meine Ausstellung über das Strafgefangenenlager "Elberegulierung" Griebo, das aus dem Zuchthaus Coswig hervorging. Dabei zeigte ich auch Ergebnisse meiner Forschungen im Kreisarchiv Wittenberg, im Landesarchiv Sachsen-Anhalt an den Standorten Dessau, Merseburg und Magdeburg und im Bundesarchiv Berlin.
Auf schwarzem Grund
die Ausstellung zum Strafgefangenenlager "Elberegulierung" Griebo,
erstmals unter dem Titel
"Vom Vergessen zum Erinnern".
Foto: A. Keller
Am 26. September 2014 hielt ich vor etwa 120 Interessierten im Vereinshaus von Apollensdorf einen Vortrag über das Strafgefangenenlager „Elberegulierung“ Griebo. Positiv überrascht hat mich an jenem Abend vor allem, dass auch einige junge Zuhörer der Einladung in der Mitteldeutschen Zeitung und dem Wittenberger Sonntag gefolgt waren. Ebenso hatte niemand mit einer so großen Anzahl von Besuchern gerechnet. Das starke Interesse, das dem Vortrag entgegen gebracht wurde, machte mir damals sehr deutlich, wie wichtig es ist, Wissen nicht nur zu sammeln, sondern es auch anderen zu vermitteln. Bei älteren Zuhörern wurden Erinnerungen an Ereignisse geweckt, die sie im Kindesalter mitverfolgt haben oder die sie aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten. Dem jüngeren Publikum gelang es, Zugang zu einem - wenn auch traurigen - Stück Heimatgeschichte zu finden.
An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal beim Kultur- und Traditionsverein bedanken, der es mir möglich gemacht hat, diesen Vortrag im Vereinshaus zu halten.
Vertreter des Kultur- und Traditionsvereins Apollensdorf und Johanna Keller
Fotos: A. Keller